Ist Achtsamkeit narzisstisch? Oder: Gibt es ein ICH ohne DU?

 Julia Birgel
Coaching - Teamentwicklung - Persönlichkeitsentwicklung
info@julia-birgel.de
Tel +49 (0)152 563 79930

Ende April 2017 wurde in der Wiener Zeitung ein Interview mit dem englischen Historiker Theodore Zeldin veröffentlicht. Der Titel „Achtsamkeit ist ein Tranquilizer“ machte mich neugierig. Bin ich doch selbst ein Freund der Achtsamkeit und nutze sie gern in Coachings mit Klienten um deren Selbstorganisation mit ihnen zu erforschen. Zudem schien mir nach etwas Recherche, dass Zeldin durchaus Interessantes zu sagen hat, und er schaute auf dem Photo auch noch so keck drein.

Im Verlauf des Textes stellt Zeldin die These auf, Achtsamkeit sei narzisstisch. Er behauptet auch, „das Ziel von Achtsamkeit sei mehr über sich selbst zu erfahren und nicht über andere“, weiterhin, dass „es das Wissen der Welt nicht vermehrt“, wir den Wissenszuwachs aber wiederum für die Lösung der Probleme der Welt bräuchten.

Nun gibt es wahrscheinlich so viele Definitionen zum Thema „Achtsamkeit“ wie es Google-Treffer gibt, wenn man nach diesem Begriff sucht. Gemessen an meinem ganz eigenen Achtsamkeitsverständnis werfen sich beim Lesen des Zeldin Interviews jedoch einige Fragen auf. Im achtsamen Zustand konzentriere ich mich auf den gegenwärtigen Moment und beobachte Gedanke und Gefühle, die dabei aufkommen. Idealerweise ohne Präferenz für „Gut“ und „Böse“, Wohltuendes oder Schmerzhaftes, ohne Vorliebe für Inneres Erleben oder äußere Ereignisse, die ich wahrnehme. Beobachtend und allen inneren Zuständen gleichwohl gesonnen. Das ist auch etwas Anderes als Meditation. Diese zielt meinem Verständnis nach auf innere Versenkung ab und verzichtet auf bewusstes Betrachten der Gedanken- und Gefühlswelt.

Mir will vor diesem Hintergrund gar nicht einleuchten, wie es sein kann, dass ich mich in einem achtsamen Zustand „nur“ mit mir selbst beschäftige und es deshalb narzisstisch sei sollte, Achtsamkeit zu praktizieren. Entwickelt der Mensch doch in seinen ersten Lebensjahren überhaupt nur dann ein Verständnis von sich selbst, also ein Gefühl dafür, wer er ist, wenn er von wichtigen Bezugspersonen feinfühlige Resonanz auf sich und seinen Vitalitätsausdruck bekommt. Ohne diese Zuwendung und Resonanz gibt es kein ICH. Unser ICH entsteht sozusagen erst in uns über einen möglichst fein „getunten“ Spiegel, der uns wirklich sieht und - zumindest vorwiegend - nicht das, was er sehen will. Der Mensch braucht das DU, am Anfang seines Lebens wie auch später - sozusagen zur fortlaufenden Aktualisierung seines Selbst - um in entsprechendem Alter überhaupt über sich nachdenken und reflektieren zu können.

Somit kann ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen ohne gleichzeitig auch meine Beziehung zur Welt im Blick zu haben. Denn neben der ICH-Instanz entwickelt sich in frühen Jahren parallel ein Bild von „der Welt“, also allem, was sich außerhalb von mir befindet, sozusagen eine DU-Instanz. Beides haben wir immer und zu jedem Zeitpunkt in uns. Ohne ICH kann ich das DU nicht bemerken und umgekehrt. Ebenso wie ich das Gute nicht als solches bemerken würde, wenn ich nicht sicher wüsste, dass es auch das Böse gibt. Oder ein Schwarz und Weiß. Oder Links und Rechts. Die Existenz liegt darin, dass es das andere auch gibt.

Menschen, die Kontakt eher vermeiden, haben diese Instanz „DU“ ebenfalls, in ihrer
"ich-mag-Kontakt-nicht-so"-Ausprägung. Und ganz im Geiste von „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (nach Paul Watzlawick) ist das ehrliche Bemerken einer Kontaktvermeidung eine nicht weniger relevante Entdeckung, als das Bemerken einer Kontaktpräferenz. Alles Leben ist (nicht)Beziehung. Und wenn ich mich durch Achtsamkeit selbst beobachte, lerne ich (auch) ganz maßgeblich darüber, über mein Bild vom ICH und mein Bild vom DU. Ich lerne etwas über meine Selbstorganisation im Kontext zur Welt.

Zeldin misst im Verlauf des Textes gegen Ende der Konversation unter den Menschen besondere Bedeutung bei, um einen Wissenszuwachs zu erlangen, der in seinen Augen so wichtig für die Lösung der Probleme der Welt sind. Dem stimme ich zu. Wenn Menschen „Beziehungstiere“ sind, dann sollte das ja ganz einfach sein. Ist es aber in der Realität oft eben überhaupt nicht. Beziehung und Dialog, das wären meine Worte für Konversation mit diesem Qualitätsanspruch, werden oft unbewusst (und manchmal auch bewusst) vermieden. Ich denke, dieses Verhalten wird weniger notwendig, wenn Menschen ihre Muster hinterfragen können, die sie antreiben, wenn Dialog nicht gelingt. Hierbei hilft die Achtsamkeit maßgeblich, wenn sie ein Hinterfragen sogar überhaupt erst möglich macht.

Im Übrigen glaube ich, dass es tatsächlich sein kann, dass Menschen mit stark narzisstischen Tendenzen die Achtsamkeit gut nutzen können, um ihr narzisstisches Selbstbild weiter zu stärken. Dazu ist wichtig zu verstehen, dass Narzissten keine, oder wenig Idee von ihrem wahren Selbst in ihrem Bewusstsein haben. Sie haben eben nicht genug angemessene Resonanz auf ihre ur-eigenen Vitalitäts- und Rückzugsimpulse bekommen. Sie wissen nicht, wer sie wirklich sind und was sie ausmacht. Der Spiegel war nicht oder nicht ausreichend auf sie eingeschwungen. Ersatzweise wurde ein Ich-Ideal ausgebildet, also ein Bild von sich selbst, das in dem Umfeld besser zurechtkommen konnte, als mit den eigenen Impulsen und Bedürfnissen. Auf dieses Bild bekamen sie (mehr) Resonanz.

Natürlich kann man Achtsamkeit auch dazu benutzen ein solches Ideal weiterhin stabil zu halten. Das beinhaltet dann sehr wahrscheinlich ein Ausblenden von Unangenehmen, eine Vermeidung von schmerzlichen Gefühlen; etwas, das Zeldin in seinem Text an der "hippen" Form der Achtsamkeit kritisiert. Die achtsame Beobachtung bezieht dann nur ein, was dem zu Gute kommt und das Ich-Ideal stabilisiert. Und dann wird, etwas zynisch, das Gütesiegel „achtsam erforscht“ draufgeklebt.

Das hat tatsächlich nichts mit Achtsamkeit zu tun, wie ich sie verstehe. Hier geht es um schneller, fitter, gesünder, effektiver, erfolgreicher und andere Superlative. Achtsamkeit und die Früchte, die dadurch zu ernten sind, fallen nicht schnell vom Baum. Und schon gar nicht direkt in den Mund. Um fitter (oder schneller, effizienter, oder was auch immer) zu werden, müsste ich - in der Annahme, dass ich die Fähigkeit dazu grundsätzlich hätte - meine Widerstände verstehen. Wenn es so einfach wäre, würde ich es ja einfach machen! Und da geht nichts vorbei daran, auch Schmerzliches und Unangenehmes zuzulassen. Das geht nicht mit Achtsamkeit allein. Da braucht es vertrauensvollen Kontakt und Beziehung zu anderen Menschen.

Womit wir wieder beim Achtsamkeitsverständnis wären. Denn an Widerständen zur Verwirklichung persönlicher Ziele komme ich durch Achtsamkeit nicht vorbei, wenn ein Optimierungsgedanke im Vordergrund steht („Ich bin jetzt achtsam um zu...“). So doof ist der dümmste Widerstand nicht, um sich von einem „achtsam erforscht“-Gütesiegel austricksen zu lassen. Es ist also eine Frage der Haltung, ob Achtsamkeit mir eventuell auch bei der Erreichung meiner Ziele helfen kann. Wenn das geschehen soll, dann kann es das nur zufällig oder nebenbei. Das kann sie dann, wenn sie absichtslos und ohne Ziel angewandt wird. Wie paradox! Wie schön! Und wie verhext!!!

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Warum harren wir oft lange in Lebensumständen aus, obwohl sie uns spürbar nicht gut tun?

Julia Birgel

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Echte, dauerhaft Veränderung ist selten leicht. Meist aus gutem Grund...

Warum ist echte und dauerhafte Veränderung oft so schwer? Diese Frage beleuchte ich in diesem Artikel auf Basis der Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft. Sie hat in den vergangenen Jahren Antworten gefunden, die eindrucksvoll deutlich machen, warum wir oft lange in Lebensumständen ausharren, obwohl sie uns spürbar nicht gut tun. Kurz und knapp lässt sich das folgendermaßen beschreiben: Alle Lern- oder Anpassungsvorgänge schlagen sich als synaptische Verschaltungen im Gehirn nieder. Die Links dieser Verschaltungen, Millionen von Verbindungen zwischen Nervenzellen, werden stärker und stärker je öfter sie benutzt werden. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie hätten gelernt, dass Sie sich in Gesellschaft von Gruppen eher zurückhaltend verhalten sollten. Damit verbundenen Verhaltensweisen würden sich in beruflichen Kontext zum Bespiel folgenderweise auswirken: Auf Empfängen stellen Sie sich nie in die erste Reihe, Sie sind eher wortkarg und sprechen leise und sowieso nur, wenn Sie gefragt werden. Diese Verhaltensweisen sind quasi als neuronale Autobahn in Ihrem Gehirn gespeichert. Zugehörige Nervenzellen können dann gar nicht mehr anders, als auf gewisse Schlüsselreize Signale abzufeuern. Das ruft in der Folge genau dieses Verhalten hervor. Das Gehirn prüft eine Situation, erkennt prägnante Merkmale und gleicht sie mit dem persönlichen Erfahrungsarchiv ab, identifiziert das Muster und die entsprechende Autobahn wird automatisch befahren. Sie sind dann quasi auf Autopilot unterwegs.

Soweit so gut und auch gar nicht schlimm. Es ist gut, dass wir Default-Programme für etliche Lebens- und Alltagssituationen zu Verfügung haben. Müssten wir alles immer wieder neu bewerten und entscheiden, wäre unser Gehirn heillos überlastet und wir lebensunfähig.

Problematisch wird es, wenn man mit dem Programm „Zurückhaltung in Gesellschaft“ eigentlich sichtbarer sein und sich zeigen will - und das auch in Gruppen. Was, wenn die Verhaltensweisen zwar zu Ihrer äußeren Hülle passen, sich aber nicht (mehr) passend Ihrer Persönlichkeit anfühlen? Oder wenn Sie aufgrund eines Karriereschritts sichtbarer werden sollen, um Ihre Rolle adäquat auszufüllen. Die neuronale Default-Autobahn wurde immer und immer wieder genutzt und ist fest verankert. Sie soll nun einer neuen Route Platz machen. Ein Ausstieg aus dem Automatismus, und sei er nur temporär oder rollenbezogen, ist dann alles andere als einfach. Denn die „Zurückhaltung“ ist vielleicht im Hinblick auf das Ziel nicht immer funktional und situationsgerecht, aber wahrscheinlich fühlen Sie sich damit zumindest sicher und keinem größeren Risiko ausgesetzt.

Die gute Nachricht ist, dass Veränderung der Gehirnstrukturen ein Leben lang möglich sind. Diese Kompetenz des Gehirns nennt sich Neuroplastizität. Im Persönlichkeitscoaching kann ein Muster im ersten Schritt erforscht und der ablaufende Automatismus kann bewusst gemacht werden. Im zweiten Schritt können im geschützten und vertraulichen Rahmen passende Handlungsalternativen entdeckt und ausprobiert werden. Kleine Trampelpfade werden als Alternativroute zur neuronalen Autobahn im Gehirn angelegt. Je öfter Trampelpfade genutzt werden, desto mehr automatisiert sich die neue Verhaltensweise. Was sich anfangs noch ungewohnt angefühlt hat und eventuell mit Angst oder Schamgefühlen einherging, fühlt sich dann selbstverständlich(er) an.

Wie könnte mein Leben noch sein, würde ich mir alle Gedanken einfach erlauben?

Julia Birgel

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Jeder Mensch hat im Grunde seines Herzens den Wunsch sich stetig weiterzuentwickeln. Ein Leben lang.

Ich glaube, dass jeder Mensch von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter einen natürlichen Impuls des Wachstums in sich trägt. Dieser Impuls lässt ihn sein Potential entfalten und sich weiterentwickeln. Das Potential zur Entfaltung besteht ein Leben lang. Dieses Menschenbild entspricht dem der humanistischen Psychologie und dort sehe ich meine Wurzeln für meine professionelle Identität als Coach und Berater.

Warum ist dieser Impuls für viele Menschen nicht mehr spürbar oder was geschieht, wenn er zwar spürbar ist, aber Entwicklung trotzdem nicht möglich wird? Allgemeingültige Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Vielleicht bekommen Sie beim Weiterlesen selbst ein Gefühl dafür, wo sie in Resonanz gehen. Vielleicht werden sie meine Hypothese auch in Frage stellen und denken: „Wieso Wachstum? Ich habe einen Schul- und eventuell einen Universitätsabschluss, Karriere gemacht und jetzt ist Schluss mit Wachstum. Wachstum ist anstrengend. Ich bin froh, dass ich nichts mehr beweisen muss und meine Ruhe habe.“ Wir verwechseln oft, dass beruflicher Erfolg, die Erreichung sportlicher Ziele oder die ersehnte Weltreise nicht unbedingt etwas mit der Entfaltung von Bedürfnissen und persönlichem Wachstum zu tun haben müssen. Hetzen Sie durch oder erleben Sie ihr Leben? Sind Sie zeitweise auch satt und zufrieden oder gibt es einen Hunger, der nie gestillt wird?

Die Art von Wachstum, die ich hier beschreiben möchte, bedeutet, dass ich mir meiner ganz eigenen Bedürfnisse bewusst werde und beginne, diese zunehmend in mein Leben zu integrieren. Sie sprudeln aus der ganz individuellen und kreativen Quelle, die jedem Menschen innewohnt. Die Reise beginnt mit einem aufmerksamen, achtsamen Lauschen nach Innen und dem Versuch, das wahrzunehmen, was sich dort meldet. Das darf auch erst mal anstrengen. Denn wir sind nicht geübt darin, genau hinzuhören. Um von Wert zu sein, muss es aber nicht anstrengen. Es darf auch einfach sein.

Vielleicht möchten Sie sich dann auf die Suche begeben und beginnen zu erforschen: Was will ich spüren und was nicht? Auf welche Impulse in mir reagiere ich und was will ich ignorieren? Wo nehme ich mein Bauchgefühl ernst und wo bagatellisiere ich mich und meinen Instinkt selbst? Welche Veränderung, welche Art von Wachstum will ich in mir sehen? Welche Veränderung würde mir (auch) Angst machen? Hier geht es dann weiter lang. Und am besten ergründet man Fragen dieser Qualität zu Zweit mit einem feinfühligen Gesprächspartner, der mit Ihnen dran bleibt. Auch dann, wenn die Antworten nicht sofort auf der Hand liegen.